Was wir (nicht) sehen.
21 Briefe an die Fotografie


Seit mehr als zehn Jahren erhalten 140 Personen im deutschsprachigen Raum, die im Ausstellungs-, Redaktions- und Verlagswesen tätig sind, in losen Abständen anonym verfasste Briefe. Das Museum Folkwang in Essen gibt eine erste Antwort und zeigt die Briefe als fotografisches Manifest.




Jeder der bisher versandten zwanzig Briefe beinhaltet ein gefalztes Blatt Papier, dessen Vorder- und Rückseite eigene oder angeeignete Fotografien zeigt, gedruckt in einem gewöhnlichen Copyshop, versandt in einem ebenso gewöhnlichen Briefumschlag aus Recyclingpapier im DIN Lang Format. Ein blauer Stempel benennt den Absender: 21.lettres.a.la.photographie@gmx.de. 

Nun wird viel über die Autorschaft spekuliert, aber geht dies nicht am eigentlichen Kern der Arbeit vorbei? Müsste die Frage nicht lauten: Was sehen wir in der Fotografie, wenn die Urheberschaft unbekannt ist und jedwede Kontextualisierung verwehrt wird? Zurückgeworfen auf das eigentliche Werk wird der Zustand der zeitgenössischen Fotografie augenfällig. Wir spekulieren. Die Briefe sind ein Geflecht aus Referenzen, Metaphern, Aufforderungen und Verweigerungen. Doch was sehen wir eigentlich?

Brief #3 scheint die moralischen Grundfeste von Museumspolitik zu hinterfragen. Als Aufhänger dient die 26 Jahre währende Sponsoringvereinbarung zwischen dem Ölkonzern BP und der Tate Britain und Tate Modern, dargestellt mit einer demonstrativen Zeigegeste auf ein Meeresbild und einer 24 Stunden Waschanlage des Unternehmens. Trotz Protesten und Debatten um die Tragfähigkeit dieser Zusammenarbeit, hielt die Tate an BP fest. Erst 2016, sieben Jahre nach dem Brief, beendete BP das Sponsoring. Die Fragen um die Machtstrukturen im Kunstbetrieb, Aufmerksamkeitsökonomien und faire Verdienstmöglichkeiten reißen indes nicht ab.


Ähnlich gesellschaftspolitisch und im Zeitgeschehen verankert wirkt Brief #9. In vier Teile zerrissen, wird auf dem wiederzusammengefügten Papier der Schriftzug „Madame Curie“ lesbar. Ein Verweis auf Marie Curie, die mit ihrer Forschung zu Uranverbindungen das Unsichtbare sichtbar machte und dafür den Begriff der Radioaktivität prägte. Der Brief stammt von 2011, dem Jahr der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Der Fotografie hängt ebenso das Paradigma der Sichtbarkeit an, dafür steht auch der im Brief befindliche Schnipsel Fotopapier, der erst mit dem Öffnen des Briefes belichtet wird. Doch wie hat die Fotografie auf die Unfallserie in dem Kernkraftwerk reagiert? Was hat sie sichtbar gemacht?

Das unverhüllte weibliche Geschlecht in Brief #14 erinnert gleichermaßen an Gustave Courbets Ölgemälde „Ursprung der Welt“ und Man Rays fotografische Geschlechterstudien. Doch handelt es sich um ein vielzitiertes Motiv der Kunstgeschichte, Pornografie oder die unverstellte Betrachtung einer Vulva? Der letzte Brief wurde 2019 versandt. Er zeigt ein Shirt, auf Höhe des Herzens liegt ein Gehirn. Ein Kommentar auf die menschenverachtenden Zustände in der Textilindustrie? Brief #21 steht noch aus. Wir spekulieren weiter.


Mit der Ausstellung 21.lettres.a.la.photographie@gmx.de macht das Museum Folkwang die Briefe erstmals öffentlich, die bisher ausschließlich an Personen adressiert waren, die mit Fotografie arbeiten, Kunst schaffen, Ausstellungen kuratieren, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher füllen. Ganz im Verständnis der Mail Art stehen die Beziehung zwischen Personen und ihrem Handeln im Fokus des Werks. In diesem Sinne lassen sich diese als Mittel der Kommunikation verstehen, um einen Dialog zwischen den Empfänger*innen zu initiieren. Zumindest die Fragen in Brief #6 sollte sich jede Person stellen, die im Kunstbetrieb agiert: Wer sind Sie? Was wollen Sie? Warum sind Sie hier? Was machen Sie damit?

Gezeigt werden die Briefe als künstlerisches Manifest, fotografische Absichtserklärung und ästhetisches Programm. In diesem Zusammenhang provozieren die Briefe eine andere Sichtweise auf Anonymität, die Personen abseits der bekannten Zirkel Interaktion und Zugang zu Institutionen ermöglichen und auch die Rezeption zugunsten des Werks verschieben kann. Ganz simpel mit Nadeln an die Wand angebracht, wird die Einfachheit der postalischen Sendungen noch betont, die zwar mit unterschiedlichen Materialien arbeiten, jedoch keine Unterschiede in der Wertigkeit zwischen Papierausdruck, C-Print oder Silbergelatineabzug machen. Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit dem Absender per Mail erarbeitet. Ihr ging der Ankauf der Arbeit für die Sammlung voraus. Ob man deswegen Überlegungen zu einer institutionellen Vereinnahmung der Briefe anstellen muss, sei dahingestellt. Viel wichtiger ist die Frage, was wir in der Fotografie sehen.


21.lettres.a.la.photographie@gmx.de
19. Juni – 8. November 2020
Museum Folkwang Essen


Der Artikel erschien in: Journal Folkwang Universität der Künste, November 2020