Andreas Gehrke, Räume – Espaces, Foto: Andreas Gehrke

Leere ist nur scheinbar wenig. Dahinter verbirgt sich eine Fülle von Bedeutungen. Sie reicht von aufgegebenen und zurückgelassenen Räumen, unbestimmten und sich selbst überlassenen Flächen bis hin zu Mahnmal gewordenen historischen Leerstellen. Sie umfasst aber auch die geplante und gestaltete Leere, Freiräume in verdichteten urbanen Zusammenhängen, die Aura des Ausstellungs­raumes oder die Erhabenheit repräsentativer Bauten.

Andreas Gehrke stellt die Ästhetik der Leere in den Mittelpunkt seines fotografischen Werks. In der Ausstellung Räume – Espaces zeigt er das Nebeneinander und Ineinandergreifen von Fülle und Verlust, Ordnung und Chaos, Präsenz und Abwesenheit sowie Zufall und Konzept als wechsel­seitige Zusammenhänge unserer gebauten Umwelt. Er konzipiert seine Raumansichten als Porträts und findet auch in menschenleeren Gefügen ein konkretes Gegenüber. Das marmorierte Interieur im Museum of Modern Art, New York wird durch Perspektivwahl und Beschnitt zu einer abstrakten Komposition, die Glasvitrinen in der James-Simon-Galerie auf der Berliner Museumsinsel erinnern in ihrer Anordnung und Überlagerung an Objekte der Minimal Art. Andreas Gehrkes Fotografie mag zunächst sachlich wirken, entfaltet jedoch bei näherem Betrachten eine ganz eigene Sicht­weise, die den Räumen eine bildliche Qualität auch fernab ihrer Geschichte und Funktion zugesteht.

Andreas Gehrke ist Autodidakt, seine Arbeiten wurden u.a. im Deutschen Architekturmuseum, Frankfurt am Main und im PS1, New York ausgestellt. 1975 in Ostberlin geboren, beginnt er im Alter von 12 Jahren als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Fotografie im Pionierpalast Berlin zu fotografieren. Nach der Wiedervereinigung kommt er mit den Fotobüchern von Walker Evans, Lewis Baltz, John Gossage und Michael Schmidt in Kontakt, die sein Werk und seinen Werdegang beeinflussen. Unter dem Pseudonym Noshe arbeitet er seit 1999 international und realisiert Auf­tragsarbeiten für Architekturbüros wie David Chipperfield und Sauerbruch Hutton oder Magazine und Verlage wie Wallpaper*, AD Germany, Distanz und Hatje Cantz. 2013 gründet Andreas Gehrke seinen eigenen Verlag Drittel Books und veröffentlicht zahlreiche Fotobücher, etwa von Martin Eberle, Julian Faulhaber und Sara-Lena Maierhofer. Zuletzt erschien seine Publikation Berlin, das Porträt einer Stadt, über die man alles zu wissen glaubt. Sechs Jahre nahm er sich Zeit, um sich seiner Heimatstadt abseits der bekannten Orte und Klischees zu nähern. Wie in der Arbeit Brandenburg widersetzt er sich einer reinen Dokumentarfotografie, um mittels subtiler Anspielungen auf die strukturellen und sozialen Veränderungen aufmerksam zu machen.


Andreas Gehrke, Räume – Espaces, Foto: Andreas Gehrke

Assoziation und Revision
Der Kontinuität und Selbstreferenz von Architektur setzt Andreas Gehrke die Erfahrung von Ver­änderung, Umnutzung und Bedeutungsverschiebung entgegen. Eine Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg wird zum Sitz der Sammlung Boros, und auf dem ehemaligen Industrieareal der Zeche und Kokerei Zollverein entsteht ein Kulturstandort mit Schaudepot, das seine eigene Geschichte ausstellt. Auch die politische Dimension nimmt er in den Blick: Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zieht der Deutsche Bundestag von Bonn nach Berlin und knüpft mit seinem Sitz im Reichstag an die dort 1918 ausgerufene Weimarer Republik an. Der viel diskutierte Nachbau des Berliner Stadtschlosses weist zurück bis auf das Adelsgeschlecht der Hohenzollern. Nichts erinnert mehr an den Palast der Republik, der einst als Wahrzeichen der DDR an eben jener Stelle stand.
 Andreas Gehrke, Räume – Espaces, Foto: Andreas Gehrke

Kontrollierte Leere
Kaum ein Raum ist so sehr Konvention geworden wie der leere Ausstellungsraum. Weiße Wände, kubisches Format, minimalistische Gestaltung, gleichmäßige Beleuchtung: In diesem vermeintlich neutralen Ensemble kann die Kunst ohne visuelle Störungen in Erscheinung treten. Doch die kon­trollierte Leere schafft ihren eigenen Kontext. Ohne Verbindungen zu einem Außen und losgelöst von Ort und Zeit kann in dieser räumlichen Konstruktion alles Kunst werden. Andreas Gehrke foto­grafiert in Ausstellungshäusern und Galerien nach ihrer baulichen Fertigstellung, aber noch vor der Eröffnung. In diesem kurzen Moment, in dem die Kunst noch nicht präsent ist, zeigen sich die Räume selbst zwischen zurückhaltender Hülle und Werk an sich.
 
Andreas Gehrke, Räume – Espaces, Foto: Andreas Gehrke

Unbestimmte Moderne
In seiner Trilogie über leerstehende Gebäude der Nachkriegsmoderne gibt Andreas Gehrke Ein­blicke in ehemalige Firmensitze von Wirtschaftsunternehmen, die das politische, soziale und wirt­schaftliche Ansehen der jungen Bundesrepublik geprägt haben. Die verlassenen Hochhäuser in Hamburg, in denen das Nachrichtenmagazin Der Spiegel untergebracht war, die alte Deutschland­zentrale des US-amerikanischen Technologie- und Beratungsriesen IBM in Stuttgart-Vaihingen und die Geschäftsstelle der einst größten und inzwischen aufgelösten Versandhandels- und Warenhaus­kette Quelle in Nürnberg: Die Serie zeigt die Innenräume bemerkenswerter Wahrzeichen moderner Architektur, die sich nach dem Weggang der Konzerne in einem Moment der Schwebe befinden, der ihre repräsentative Funktion noch erahnen lässt, aber auch von Verfall und Neuanfang zeugt.



Andreas Gehrke: Räume – Espaces
7. Oktober 2021 –25. Februar 2022
Goethe-Institut, Bordeaux