Lucia Kempkes
To
Protect Us From What We Seek





In ihren zeichnerischen und skulpturalen Arbeiten untersucht Lucia Kempkes die Bedeutung von Landschaft als Projektionsfläche für unsere Erinnerungen und Sehnsüchte. Ihr Werk kreist um die Faszination des Abenteuers, die Suche nach körperlichen Herausforderungen, aber auch das Bedürfnis nach Sicherheit und Zuflucht. Dafür lotet sie die Eigenschaften verschiedenster Materialien wie Teppich, Steinpapier und Goretex-Folie aus und erzeugt eine Umgebung, die den Ausstellungsraum selbst zu einem landschaftlichen Gefüge werden lässt.


Der Blick auf die Berge ist eines der ältesten Motive der Kunstgeschichte, das sich über Zeiten und Gattungen hinweg bis in die digitalen Bildwelten fortsetzt. Ob in der klassischen Malerei oder als Standardhintergrund auf unserem Laptop, die Assoziationen, die sich damit verbinden, reichen von Aufbruch, Ruhe oder Hoffnung bis hin zu Nervenkitzel oder lebensgefährlicher Bedrohung. Das jeweilige Empfinden ist jedoch weniger von dem konkreten Ort bestimmt als von dem Gefühl eines Zuhauses, einem Raum emotionaler Zugehörigkeit und Stabilität. In diesem Spannungsgefüge von alltäglichem Leben und dem Rausch des Unbekannten, zwischen Geborgenheit und Grenzerfahrung entfaltet Lucia Kempkes ein vielschichtiges und spielerisches Werk, das den Perspektivenwechsel und die Transformation von Ideen und Materialien immer wieder zum Thema macht. Ihre Arbeiten sind eine Auseinandersetzung um eine zeitgenössische Darstellung von Landschaft und berühren zugleich viele Fragen, die uns in der Pandemie sowie in Hinblick auf den Klimawandel und soziale Ungleichheit beschäftigen. Wer hat das Privileg, Fernweh zu verspüren? Was unterscheidet kalkuliertes von existenziellem Risiko? Ist Reisen eine begrenzte Ressource und wie wird sie verteilt?



Analog und Digital

Mit ihren Papierarbeiten übersetzt Lucia Kempkes zu Klischees geronnene und vielfach rezipierte Landschaftsbilder in von Hand gefertigte Einzelstücke. Nicht die Berge selbst, sondern ihre Abbildungen, wie sie etwa in der Werbung verwendet werden, sind Ausgangspunkt für ihre Reflexion darüber, was wir von Landschaft erwarten. Sie verbindet ihre Zeichnungen mit der Ästhetik digitaler Gesten, indem sie etwa ihre Bergpanoramen mit dem Photoshop-Radierer von menschlichen Spuren befreit oder verschiedene Ebenen übereinander legt. Der analoge, zeitintensive und zuweilen auch kontemplative Ansatz des Zeichnens trifft hier auf sein nervöses Gegenstück: das Leben mit zu vielen geöffneten Tabs, die als Ausschnitte einer Wirklichkeit unablässig um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren.



Material und Transformation

Bei Lucia Kempkes wirken industriell gefertigte Teppiche wie Gemälde und von Hand verknüpfte Wolle erweitert die Graphitzeichnungen in einer materiellen und plastischen Dimension. Hier spiegelt sich die Wechselbeziehung von Alltag und Abenteuer in der Transformation und dem gegenseitigen Durchdringen von Werkstoffen und Techniken.

Der von Hand gewebte und geknüpfte Teppich zeigt kein traditionelles Muster, sondern wurde nach einem Entwurf von Lucia Kempkes in Marokko gefertigt. Die Stoffbahnen stammen von einem Gleitschirm, der die Alpen überflog, bevor er im Atlasgebirge eine weitere Bedeutungsebene fand. Die Metamorphose eines kompletten Gleitschirms in einen einzigen Teppich hat ein Jahr in Anspruch genommen und zeigt die Anstrengung und Geduld, die mit häuslicher Realität und Fürsorge einhergeht.



Vergänglichkeit

Lucia Kempkes Skulptur eines Kajaks ist ein Sinnbild für unsere emotionale Beziehung zu Urlaubsreisen, Gedanken an unbeschwerte Ferientage, Erwartungen an eine Auszeit oder ewig unerfüllte Wünsche. Ihre Machart aus Steinpapier deutet die Ambivalenz und Fragilität dieser Gefühle an. Die Replik ähnelt dem Originalobjekt in Design, Größe und Bauweise. Die glatte Textur und die weiße Farbe des Materials lassen sie aber auch wie ein Modell oder Musterstück wirken, das noch mit Erlebnissen versehen werden kann und ungeachtet dessen längst dem Zerfallsprozess anheim gefallen ist.

Die Skulptur selbst ist eine freie Assoziationsfläche und bleibt doch in sich widersprüchlich: Steinpapier wird aus einer Polyethylen-Basis gewonnen. Unter Einfluss von UV-Licht zersetzt sich der Kunststoffanteil allmählich zu Mikroplastik und ist – anders als die Bezeichnung vermuten lässt – nicht biologisch abbaubar.

Wie unsere Erinnerungen wird sich auch diese Skulptur eines Tages auflösen. Sollten wir sie deshalb für immer im Dunkeln aufbewahren oder ist es gerade die begrenzte Halbwertszeit, in der ihre eigentliche Bedeutung liegt?



Lucia Kempkes
To Protect Us From What We Seek 
13. Juli – 4. September 2022
Kommunale Galerie Berlin